9punkt - Die Debattenrundschau

Verschiedene Wahrheiten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.04.2024. Im Interview mit Zeit online ärgert sich die Schriftstellerin Mithu Sanyal über die "Sündenbock-Funktion", die dem Postkolonialismus seit dem 7. Oktober zugeschoben werde. Die FAZ wundert sich nicht über die antisemitische Stimmung an amerikanischen Universitäten: Hass auf Israel und den Westen sei dort signifikanter Bestandteil des Kerncurriculums. Antisemitische Proteste? Überhaupt nicht, wehrt sich auf CNN ein jüdischer Student, der die kollektive Entscheidungsfindung der Demonstranten in Yale lobt. Die SZ fragt, warum nur der § 218 einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Menschen erlaubt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.04.2024 finden Sie hier

Ideen

Im Interview mit Zeit online ärgert sich die Schriftstellerin Mithu Sanyal über die "Sündenbock-Funktion", die ihrer Ansicht nach dem Postkolonialismus seit dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober zugeschoben wird. Sie bittet um Differenzierung, etwa wenn Interviewer Ijoma Mangold einwirft, Butler habe die Hamas als Befreiungsbewegung bezeichnet: "In den Debatten um Judith Butler reagieren wir auf Schlüsselworte. Wenn wir Befreiungsbewegung oder Widerstand hören, denken wir, das ist gut, also ist alles, was ich im Namen des Widerstands tue, gut. Nein! Es gibt bewaffneten Widerstand, den ich eindeutig als Terrorismus bezeichnen würde. Hier bin ich übrigens anderer Meinung als Butler, für die der 7. Oktober bewaffneter Widerstand war und nicht Terror. Deshalb habe ich lange darüber nachgedacht, warum ihr diese Unterscheidung so wichtig ist. Weil es ihr um die Intention geht. Paraphrasiert: 'Entweder es gibt eine politische Motivation - dann wäre es Widerstand. Oder es ging am 7. Oktober darum, so viele Juden wie möglich zu töten, weil die Hamas halt so antisemitisch ist - dann wäre es Terrorismus.' Ganz wichtig: Auch mit einer politischen Motivation ist der Anschlag noch immer ein massives Verbrechen! Aber nur wenn es eine politische Motivation gibt, kann es auch eine politische Lösung geben."

Wir tragen die taz-Kolumne von Tania Martini vom Freitag nach - auch weil sie auf einen Artikel hinweist, den wir ebenfalls übersehen hatten. Fassungslos las sie einen Text der deutschen Autorin Eva Ladipo, Großnichte eines Hitler-Generals, die sich im Guardian Sorgen um das Ansehen Deutschlands in der Welt macht: "Ist es die Sorge darüber, dass es ein von Judenhass geprägtes Klima an den Universitäten gibt? Oder darüber, dass die Zahl antisemitischer Straftaten gestiegen ist? Nein, die Verbrechen des Onkel Walter 'fühlen sich gerade jetzt unangenehm relevant an', weil Deutschland ungewollt Fehler wiederhole, 'die schon einmal gemacht wurden', gerade weil es 'an der Seite Israels' stehe. Israelis als die Nazis von heute? Und Nazis erkennen Nazis am besten? 'Die Vergangenheit meiner Familie und Deutschlands lastet schwer auf mir. Und deshalb liegt mir Gaza so am Herzen', so der Titel des Textes, der symptomatisch ist für einen bestimmten pseudoantirassistischen Paternalismus voller Verdrehungen und Blindheiten."

In der FAZ beschreibt Franziska Sittig die Stimmung an amerikanischen Universitäten, die sie als hausgemacht empfindet: "So geschockt ich anfangs auch war, dass Hamas, Hizbullah, PFLP und Islamic Jihad von vielen Studenten als Befreiungs- statt als Terrororganisationen, die sie sind, angesehen werden, umso besser kann ich mittlerweile nachvollziehen, woher diese Ansichten rühren. Ich kann mit Kufija und oft noch Covid-Maske verhüllte Studenten nicht isoliert für ihren Israelhass und in wachsendem Maß auch Hass auf die Vereinigten Staaten verantwortlich machen, wenn signifikante Bestandteile des Kerncurriculums - des interdisziplinären Standard-Literaturkanons der Universitäten - lehren, das gesamte westliche System sei 'oppressive' und jeder, der Teil dieses System ist, mache sich mitschuldig, weshalb ein direkter Angriff auf das System der einzige Ausweg sei." Sittig beschreibt auch einen wesentlichen Unterschied zu den Studentenprotesten '68: "Damals zielte die Besetzung von Universitätsgebäuden und der Druck auf die Universitätsverwaltung nicht darauf ab, für eine Minderheit oder einen gemeinsamen gerechten 'cause' auf Kosten einer anderen Minderheit einzustehen. Heute dagegen werden jüdische und israelische Studenten kollektiv für das Vorgehen Israels im Gazastreifen haftbar gemacht." Ähnlich sieht es Josef Joffe in der NZZ.

Im Interview mit CNN wehrt sich der jüdische Yale-Student Ben Weiss gegen den Vorwurf, die Proteste an amerikanischen Universitäten seien antisemitisch grundiert. "Als Student im vierten Jahr in Yale empfinde ich diese Charakterisierung als zutiefst frustrierend, da sie nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte. Auf Schritt und Tritt bin ich auf eine Gemeinschaft von Aktivisten und Organisatoren gestoßen, die gerne zuhört, bereit ist zu lernen und sich für die Einbeziehung jüdischer Stimmen und Perspektiven einsetzt. Als Teil der schwierigen Arbeit, ein pluralistisches Protestumfeld zu schaffen, hat die Koalition beispielsweise jüdische Stimmen bei der kollektiven Entscheidungsfindung über die zu verwendende Sprache angehört und sich schließlich darauf geeinigt, keine Sprechchöre wie 'Es gibt nur eine Lösung: Intifada-Revolution' zu verwenden, die bei einigen jüdischen Studenten ein Gefühl der Unsicherheit hervorrief. Obwohl diese Gesänge auf dem Yale-Campus zu hören waren, wurden sie von den Organisatoren der Proteste im Rahmen des laufenden Dialogs weder genehmigt noch angestimmt."

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Der amerikanische Ethnologe Steven Vertovec hat gerade ein Buch über "Migration und soziale Komplexität" veröffentlicht. Im Zeit-Online-Gespräch erklärt er, weshalb er statt von "Mulitkulturalismus" von "Superdiversität" sprechen will: "Soziale Kategorien wie Ethnie oder kulturelle Zugehörigkeit sind meiner Meinung unzureichend, um die Diversität unserer heutigen Gesellschaften begreifbar zu machen. (…) In vielen unserer Debatten herrscht die Vorstellung vor, dass die Welt in Gruppen unterteilt ist. Gruppismus sozusagen. Das ist die mentale Schablone, die wir über die Welt legen, aber Gruppen sind keine hermetisch verschlossenen, abgegrenzten Einheiten. Kategorien sind porös, sie sind nicht fixiert. Identitäten sind immer mehrdimensional. (…) Immer mehr Menschen gehören mehreren Strömungen gleichzeitig an, was an der wachsenden Verbreitung des Zusatzes trans- erkennbar ist: Transnationalität, Transgender, Transsexualität, in der Soziallinguistik gibt es auch die Transsprache. Vieles ist heute durchlässig und im Fluss."
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Politik

Moritz Pieczewski-Freimuth unterhält sich für hpd.de mit Emil Mink vom "Mideast Freedom Forum Berlin" (MFFB) über die Frage, warum die deutsche Politik oft nach wie vor eine so unscharfe Position zum iranischen Regime einnimmt und nicht mal einschlägige Organisationen als Terrororganisationen einstuft. Mink macht dafür unter anderem "Netzwerke regimetreuer Lobbyisten" in Thinktanks und regierungsnahe Organisationen mitverantwortlich: "Vergangenes Jahr hat eine Recherche des Oppositionssenders Iran International offen gelegt, dass 2014 während einer wichtigen Phase in den Verhandlungen um das Atomabkommen mit der Islamischen Republik ein regimetreues Netzwerk von Wissenschaftlern und Politikberatern ins Leben gerufen wurde, das die öffentliche Meinung in Nordamerika und Europa zu Gunsten des Regimes beeinflussen sollte. Zum Teil mit erheblichem Erfolg." Auch im Auswärtigen Amt habe das Netzwerk Einfluss - genauer wird Mink allerdings hier nicht.

Die Iraner wollen keinen Krieg gegen Israel führen, glaubt im Interview mit der taz der iranische Historiker Arash Azizi. Krieg sei viel zu unpopulär in der iranischen Bevölkerung. Ebenso wie die Unterdrückung der Protestbewegung, die wenige Stunden vor dem israelischen Raketenangriff auf Israel verstärkt wurde: "Seitdem gab es wieder viele Verhaftungen und Toomaj Salehi, der beliebte Rapper, wurde zum Tode verurteilt. Diese Einschüchterungstaktik ist besorgniserregend. ... Wie kann man Krieg gegen Israel und die iranischen Frauen am selben Tag beginnen?" Ingesamt seien die Iraner nicht besonders an den Palästinensern interessiert, meint Azizi: "Viele Iraner sind kritisch gegenüber der arabischen Welt. Sie sehen arabische Länder als traditionelle Rivalen Irans. Das Land wurde im siebten Jahrhundert von Arabern überfallen und hat eine sehr komplizierte historische Beziehung zu den arabischen Nachbarn. In der iranischen Gesellschaft gibt es wahrscheinlich mehr Feindseligkeit gegenüber Arabern als gegenüber Juden oder Israelis."

Der Krieg in Gaza spielt kaum jemandem so in die Hände wie dem Iran, meint der in Teheran geborene Schriftsteller Behzad Karim Khani in der SZ: "Netanjahus Koalition manövriert Israel mit ihrem Rache- und Vernichtungskrieg in Gaza derzeit immer weiter in die internationale Isolation und destabilisiert das Land auf eine Weise, wie es die Mullahs wohl niemals geschafft hatten." Dass das westliche "Klischee" vom "unberechenbaren" Iran nicht haltbar ist, dürfte "schnell auffallen, wenn man nur ein paar Beobachtungen macht und Fragen stellt: Weshalb hielt Iran in Russlands Tschetschenienkrieg dem Kreml die Treue, statt an der Seite seiner moslemischen Glaubensbrüder zu stehen? Warum finden in der iranischen China-Politik die moslemischen Uiguren nicht einmal Erwähnung? Warum unterstützte Iran im Konflikt zwischen dem schiitischen Aserbaidschan und Armenien die christlichen Armenier? Woher kommt die Nähe des Regimes zu den sozialistischen Ländern Venezuela oder Kuba, während doch Sozialisten in Iran verfolgt werden?"

Israel manövriert sich zunehmend in eine "Sackgasse", meinen auch Shimon Stein und Moshe Zimmermann in der FR: "Netanjahus Regierung blockiert - von einem Staat Palästina darf keine Rede sein, und die Autonomiebehörde käme nicht, auch wenn sie unter neuer Führung stünde, als Partner in Frage. Genau diese Haltung schuf ja die Situation, die den 7. Oktober möglich machte: Hamas auf Kosten der Autonomiebehörde starkzumachen."
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Gesellschaft

Die Frage, die sich der Staat mit Blick auf den Paragrafen 218 stellen muss, ist: "Was darf ein Staat einem Bürger antun, um das Leben eines anderen Bürgers zu erhalten", meint Nele Pollatschek im Aufmacher des SZ-Feuilletons: "Hier ist die Antwort, die der Gesetzgeber in allen Fällen außer §218 gibt, erschreckend eindeutig: Nichts. Wo ein Bürger eine Niere zum Überleben braucht und ein anderer Bürger zwei kompatible Nieren besitzt, darf der Staat nicht einfach zugreifen. Wo das Leben eines leukämiekranken Kindes nur durch eine Rückenmarkspende gerettet werden kann, darf der Staat sich nicht gegen den Willen eines kompatiblen Spenders bedienen. Nicht mal einen so minimalinvasiven Eingriff wie eine Blutspende darf der Staat zum Lebensschutz erzwingen. Sogar vor einer posthumen Organspendepflicht schreckt er zurück. So ernst nimmt der Staat das Recht auf körperliche Selbstbestimmung, dass er es seinen Bürgern erlaubt, ihre toten Körper in Erdlöchern verrotten zu lassen, anstatt mit den Organen anderen das Leben zu retten."
Archiv: Gesellschaft

Medien

In einem offenen Brief in The Free Press hatte Uri Berliner, seit 25 Jahren Redakteur bei National Public Radio (NPR), den "woken anwaltschaftlichen Journalismus" des öffentlichen Rundfunks kritisiert, schreibt Marc Neumann, der in der NZZ befürchtet, dass das Programm des Senders unter der neuen Chefin Katherine Maher noch extremer wird: "Die ehemalige Stiftungsdirektorin der Wikimedia Foundation (...) hatte vorher noch nie im Journalismus gearbeitet. Nun hat der rechtskonservative Aktivist Christopher Rufo das X-Konto (vormals Twitter) von Maher durchforstet. Ihre Posts sind eine Fundgrube progressiv-absurden, tugendhaften Denkens. So gibt es für Katherine Maher viele verschiedene Wahrheiten. Die verfassungsmäßig zugesicherte Redefreiheit, die Grundlage für die journalistische Arbeit, ist für sie ein Problem, da sie auch Desinformation zulasse (…) Dann wieder hat Maher die Wahrheit gepachtet: Hillary Clinton etwa soll nicht von 'Buben und Mädchen' sprechen, da dies nonbinäre Menschen ausradiere. Am Martin-Luther-King-Feiertag stimmte Maher dem Autor Ta-Nehisi Coates zu, für den Amerika auf der 'Plünderung Schwarzer' gegründet ist, weshalb dem Land Reparationszahlungen gut anstünden."

Auf den Medienseiten der SZ plädiert Nils Minkmar dafür, Vertreter rechtsextremer Parteien nicht mehr in öffentlich-rechtliche Talkshows einzuladen: "Eine Talkshow ist kein Ort der Wahrheitsfindung, sondern der Repräsentation. Fernsehen ist ein Forum, aber eben auch immer Schaufenster. Was hier geboten wird, ist, wenn es nicht explizit ausgeschlossen wird, zur Nachahmung empfohlen."
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Stichwörter: Npr, Wokeness, Maher, Katherine

Geschichte

In Geschichte der Gegenwart erinnern die Historiker Malika Rahal, Direktorin des Institut d'histoire du temps présent in Paris, und Fabrice Riceputi, Forscher am Institut d'histoire du temps présent sowie Co-Moderator der Website histoirecoloniale.net, an die Kriegsverbrechen des französischen Militärs in Algerien. Entschuldigungen Richtung Algerien interessieren dort weniger als eine "konkrete Aufarbeitung" der Geschehnisse, meinen die beiden, die sich genau dafür einsetzen: "Die Militärs unterlagen ab Januar 1957 keinen rechtlichen Beschränkungen mehr: Durchsuchungen, Verhaftungen, Gewahrsam und Verhöre fanden ohne juristische Aufsicht oder Kontrolle statt. Die Zahl der Verhaftungen explodierte und erreichte binnen sechs Monaten mehrere Zehntausend", von denen viele verschwanden. Wie nun lassen sich diese Verschwundenen ausfindig machen? U. a. durch das von Fabrice Riceputi gegründete Gemeinschaftsprojekt Mille autres. Des Maurices Audin par milliers: "Auf dieser, aus dem ersten Zeugenaufruf entstandenen Website werden fortlaufend die Fälle aus der Akte und die von den Familien ergänzten Informationen dokumentiert. Die Vermissten sind mit Namen, gegebenenfalls Foto und vorhandenen Infos gelistet, in der Hoffnung, dass sie von Angehörigen, Bekannten oder Nachbarn noch identifiziert werden. Zahlreiche Gespräche mit Zeugen konnten seither geführt werden."
Archiv: Geschichte